Wir tauchen ab in die Entzauberung des Zaubers. Karfreitag, der Feiertag der Philosophen, der großen und der minderen; also auch unser Festtag, der Tag der hochzielenden Weltveränderer, der intellektuellen Berserker und wissen schaftlichen Wundertäter? Karfreitag, der Festtag heroischer Übermenschen!
Endlich es den Göttern heimzahlen; vor allem den Gott der christlichen Geschöpfesliebe einmal zur Verantwortung ziehen, indem wir ihm jenes Elend zumuten, dem er uns so unerbittlich ausliefert im menschlichen Dasein. Ihn wenigstens auch einmal viehisch malträtieren, aufs Kreuz nageln, verhöhnen, entwürdigen und zerbrechen. Ihm einmal entgegentreten im Triumph unserer Ohnmacht als der Macht zu töten; denn das verstehen wir als einzigen Beweis unserer Macht: die Götter töten zu können, den Schöpfer zu zerstören, die Schöpfung zu verwüsten. Karfreitag: Rache für die Zumutungen ewiger Gotteskindschaft und des Gehorsams. Rache für die Zumutungen der Liebe, des unumgänglichen Verzichts auf Selbstherrlichkeit, auf menschliche Autonomie und Glorie.
Seht den berühmten Arzt, der sich nicht selber zu helfen weiß – jetzt kratzt er ab. Seht den Gesalbten, den Gesandten der größten Macht – jetzt krümmt er sich schmerzlich wie irgendein Ausgestoßener. Seht den Richter, den hoheitlichen Vollstrecker der göttlichen Willkür – jetzt richten wir ihn aus unserer unerbittlichen Rechtlosigkeit.
Karfreitag: die Götter sind einmal wenigstens aus der Welt vertrieben, das Gesetz der unmenschlichen Herren zerschlagen, die fesselnden Traditionen gesprengt; endlich stehen wir im Bewußtsein unseres eigenen Willens und der Kraft unserer eigenen Willkür.
Und dann wird es Abend und still; weil wir erschöpft sind durch die Orgie des Tötens? Still, weil wir doch nicht so genau wissen, ob wir ganze Arbeit geleistet haben? Ahnen wir schon, daß uns die radikalste Demütigung noch bevorsteht, das Eingeständnis, nicht einmal in der brutalsten Zerstörung wirklich Großes zu leisten? Oder haben wir gerade das an Karfreitag heraus fordern wollen: unsere Widerlegung als letzte Instanz, als Schöpfer aus eigener Macht, als Herren der Welt?
Ja, und dann der Ostermorgen, der helle Tag, an dem die Götter wieder in die Welt einziehen mit einem peinigend milden Lächeln. Wir sind beschämt, wir wurden ertappt, wir bitten um Nachsicht und versprechen, unseren heroischen Furor, die Rebellion der Elenden zu zügeln. Die Philosophen ziehen den Schwanz ein, die intellektuellen Besserwisser und Kritiker der göttlichen Wahrheit versprechen, ihre Kraft nur noch in der Selbstwiderlegung zu be weisen: Osterversprechen – Osterglück.
Aus: Bazon Brock: Lustmarsch durchs Theoriegelände. Köln 2008, S. 128f.