Andreas Wünschirs: „Bilder eines Jungen“
Er ist 13 Jahre alt, wohnhaft in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, als man ihm eine Kamera schenkt. Herangewachsen in diesem Staat, den die Geschichte vor mehr als 30 Jahren von der Landkarte radierte, nimmt er nicht nur mitunter Absurdes als gegeben hin, sondern ist auch ein ganz normaler Junge, zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, mit Neugier und Übermut und mit einer großen Leidenschaft: Straßenbahnen.
Nahezu manisch, angetrieben vom Ehrgeiz des Sammlers, alle Wagentypen und -nummern vor die Linse zu bekommen, durchreist er die ganze Republik. Am Ende sind es über 20.000 Negative, versehen mit (Wagen-)Nummer, Ort und Datum.
Fast 35 Jahre später sichtet der Künstler und Fotograf Andreas Wünschirs das Archiv von Straßenbahnbildern aus seiner Jugend und – ist verzaubert. Aber nicht etwa, weil die alte Leidenschaft wieder aufflammt, sondern weil er das Alltagsleben eines Landes auf den Bildern abgebildet sieht, das so nicht mehr existiert. Nicht so leicht fällt die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, aber sie lohnt sich, denn mehr und mehr tritt das ganz persönliche Bild in Wünschirs´ Aufnahmen hinter einer Erzählung von DDR-Alltagsgeschichte zurück. Die Präsenz der Bahnen, ursprünglicher Auslöser für die Entstehung der Bilder, verblasst und das Geschehen drumherum tritt plastisch hervor und gewinnt aus heutiger Sicht an Bedeutung. Diese Alltagsszenen, die zahlreichen kleinen Realitäten auf der Straße, im Gelände, hüllen den Betrachter ein in ein Lebensgefühl aus einer längst vergangenen Zeit. Mit einem Mal entstehen Allegorien, wie der Mann im Nebel, die zuvor im Verborgenen geblieben waren – Bildwelten, die Assoziationen mit der Vergangenheit heraufbeschwören (Stand hier nicht ein ganzer Staat im Nebel?), wie es nur in einer Rückschau möglich ist.
Mit dem gebührenden zeitlichen Abstand ist der Künstler selbst überrascht über die andere Erzählung seines Erlebten und erkennt, dass auch seine Wahrheit mehrere Schichten hat.
Ulrike Gurt, 2022